Die Mitwelt vergass ihn, noch bevor er tot war; heute zählt Herman Melville zu den bahnbrechenden Vertretern der Weltliteratur. Ausgehend vom Abenteuerroman mit exotischer Kulisse, wurde er zum Kundschafter in dunklen Zonen der menschlichen Seele, die er in immer neuen Szenarien erschloss.
Thomas David
Dass Herman Melville im selben Jahr wie Gottfried Keller und Theodor Fontane zur Welt gekommen sein soll, ist für den heutigen Leser im Grunde unvorstellbar. Melvilles Werk hat nichts vom lakonischen Realismus des Zürcher Klassikers. Nichts von der anspielungsreichen Zurückhaltung des grossen Preussen, der von einem Roman erwartete, dass er «unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen» eine Geschichte erzähle, «an die wir glauben».
Melville wusste früh, dass Zeit «aus verschiedenen Zeitaltern gebildet» ist, und war entsprechend selbst eher Zeitgenosse von Homer und Shakespeare, von Kafka, Joyce und Faulkner, von Thomas Pynchon und Bob Dylan. Ein beide Enden der Parabel fassender, die mystischen Schwingungen von Vergangenem und Zukünftigem erspürender Apostel der Apokalypse, der bereits in seinem 1846 erschienenen Debütroman, «Taipi», die «vergiftete Atmosphäre unserer fieberhaften Zivilisation» anprangerte.
In diesem vom Publikum gefeierten Südseeroman nahm er vor exotischer Kulisse die «unbarmherzige Grausamkeit» jener hyperkapitalistischen Gesellschaft ins Visier, die ihn schon drei Jahre später, nach Erscheinen der als «verquaste Rhapsodie» verrissenen Allegorie «Mardi und eine Reise dorthin», mit Skepsis betrachtete. Ende 1851 blieb der Schriftsteller auf der Hälfte seines in einer Auflage von knapp dreitausend Exemplaren erschienenen «Moby-Dick» sitzen; bei der Veröffentlichung des darauffolgenden Romans, «Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten», wurde ihm eine «kranke Phantasie» attestiert.
Schiffbruch einer Familie
Während Gottfried Keller an der Spitze eines langen Trauerzugs von der gesamten Bürgerschaft seiner Stadt zu Grabe getragen wurde und Fontane dem wilhelminischen Leser bereits zu Lebzeiten als unsterblich galt, war Melville bei seinem Tod im September 1891 derart vergessen, dass in einem der wenigen Nachrufe von einem «einstmals bekannten Autor» die Rede war. Von «Hiram Melville». Von einem Schriftsteller, dessen «literarischer Niedergang» so tief gewesen sei, dass ihn «sogar seine eigene Generation längst für tot gehalten» habe. «Hätte ich in diesem Jahrhundert die Evangelien geschrieben, so würde ich doch in der Gosse sterben», schrieb der um Wert und Bedeutung seines Werks wissende Melville während der Arbeit an «Moby-Dick» an den befreundeten Nathaniel Hawthorne: «Ich will ruhm- und ruchlos sein.»
«Der Mann, der niemals nirgendwo gescheitert ist, kann nicht gross werden», notiert Melville im Sommer 1850.
Dabei schienen ihm die Verheissungen von Ruhm und Ehre, die Versprechungen seiner eng mit dem Gründungsmythos der noch jungen Nation verwobenen Familiengeschichte, am 1.August 1819 ebenso in die Wiege gelegt wie die in der Unabhängigkeitserklärung verbrieften Rechte auf «Leben, Freiheit und das Streben nach Glück». Sein als Kind britischer Einwanderer geborener Grossvater, Thomas Melvill, hatte 1773 an der Boston Tea Party teilgenommen und drei Jahre später im Hafen von Boston die ersten Schüsse auf die britische Flotte abgegeben. Peter Gansevoort, der einer wohlhabenden Patrizierfamilie entstammende Vater seiner Mutter, hatte sich als Oberst der Kontinentalarmee ebenfalls um die Vereinigten Staaten verdient gemacht und war für Maria Gansevoort Melvill der unanfechtbare Held einer bis ins goldene Zeitalter der niederländischen Besiedlung des heutigen New York zurückreichenden Familiensaga. Dieser Ikone hatte Melvilles Vater nichts als die Halluzinationen des eigenen Erfolgs entgegenzusetzen.
Allan Melvill, ein hochstapelnder, am Ende tragischer Parvenü, dessen zwielichtiges Porträt in den 1852 erschienenen Roman «Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten» eingegangen ist, erlitt mit seinen auf französische Importwaren spezialisierten Geschäften Schiffbruch; er starb 1832 hoch verschuldet und in geistiger Umnachtung. Seine Frau und die zahlreichen Kinder gerieten in einen Strudel von Scham und Schande, über dem die hochfliegenden Träume der von Verwandten über Wasser gehaltenen Familie verrauchten.
Der im calvinistischen Glauben erzogene Herman Melville versuchte zunächst vergeblich, eine bezahlte Anstellung zu finden, um seine ins Schwanken geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Der Sogkraft des Untergangs entkam er erst, als er in Ermangelung anderer Arbeit Ende 1840 im Hafen von New Bedford auf dem Walfänger «Acushnet» anheuerte und Richtung Pazifik segelte.
Unerforschte Räume
«Der Mann, der niemals nirgendwo gescheitert ist, kann nicht gross werden», notierte der durch den Sündenfall seines Vaters herausgeforderte Melville im Sommer 1850. Zwar hatte er «die Sache mit dem Ruhm» noch nicht gänzlich als «die offensichtlichste aller Eitelkeiten» abgetan, schlug aber schon alle erfolgversprechenden Erzählkonventionen in den Wind. Stattdessen drang er immer tiefer in den metaphorischen, Mut und Risikobereitschaft fordernden «Seeraum» vor, den er mit «Mardi» zu erkunden begann.
«Je eher dieser Autor in die Anstalt kommt, desto besser», schreibt ein Rezensent über Melvilles Roman «Pierre».
Mit den Schilderungen seiner Desertion von der «Acushnet», des Lebens unter Kannibalen und der in dem 1847 erschienenen Sequel von «Taipi» beschriebenen «grand tour» durchs Inselparadies der Südsee hatte Melville noch vertraute Erzählmuster bedient, was ihm das Image eines «amerikanischen Defoe» einbrachte. «Mardi» aber wurde zum Epos einer phantastischen, wie durchs Unbewusste der Erinnerung an seine Südseeabenteuer mäandernden Irrfahrt. Ein Buch voller Abschweifungen, erzählerischer Schiffbrüche und verstörender Eruptionen. Ein aufschäumendes, vom Gesang eines revolutionären Geists erfülltes Sprachgebilde, das bereits – ähnlich wie dann «Moby-Dick» – traumwandlerisch nach der eigenen Form suchte und seinem Autor die Umkehr im Grunde unmöglich machte.
Es sei besser, «in Originalität zu scheitern, als in der Nachahmung erfolgreich zu sein», so Melville im Sommer 1850 in einem Hawthorne gewidmeten Artikel, in dem er zwischen den Zeilen jedoch auch das eigene Erzählprojekt einer wahrhaft demokratischen, gegen den Kolonialismus der britischen Literatur aufbegehrenden amerikanischen Nationalliteratur propagierte. Deren poetologische Unabhängigkeitserklärung brachte er dann in dem «Jung-Amerika in der Literatur» betitelten Kapitel von «Pierre» unmissverständlich auf den Punkt: «Ich schreibe exakt so, wie es mir passt.»
Ein dämonisches Spiegelbild
Handelte «Moby-Dick» vom «Verderben unseres weissen Zeitalters», wie D.H. Lawrence 1923 in «Der Untergang der Pequod» vermutete, vom Untergang «der weissen amerikanischen Seele», so war «Pierre» das schwarze Menetekel von Melvilles ganz persönlichem Verhängnis. Er führte ein Leben unter dem «Bannfluch des Dollars», von dem ihn der Vater seiner 1847 geehelichten Frau wiederholt erlöste. In «Pierre», dem ruchlosen, autobiografisch codierten Landroman, in dem Melville nach Ansicht des Biografen Michael Shelden auch die heimliche Affäre mit einer anderen Frau verarbeitete, erzählt er vom Spross einer angesehenen Ostküstendynastie, der sich der verbotenen Liebe zur unehelichen Tochter seines früh verstorbenen Vaters hingibt und in New York eine aussichtslose Karriere als Schriftsteller beginnt.
«Billy Budd», Melvilles grossmeisterliche Novelle, wurde Jahrzehnte nach seinem Tod in einer Brotdose gefunden.
«Pierre» ist ein unfassbares, dämonisches Buch, Melvilles American Gothic, für das er tief in den «Brunnen seiner Kindheit» blickte, in dessen Spiegel das Bildnis seines Vaters mit dem unheilvollen Zerrbild seiner selbst verschwamm. «Je eher dieser Autor in die Anstalt kommt, desto besser», so einer der sensibleren Rezensenten, der in Melvilles unmissverständlicher Weigerung, sich den zivilisierten Moralvorstellungen seiner Leser und den kümmerlichen Erwartungen der Kritik zu beugen, bereits die selbstzerstörerische Widerspenstigkeit erkannte, der Melville im Sommer 1853 mit der Figur des Lohnschreibers Bartleby Gestalt verlieh.
Und nochmals: der Ruhm
«Dass er nicht zu ‹Ruhm› gelangt ist – was soll’s? Das macht ihn nicht kleiner, sondern nur umso grösser», bemerkte Melville im Dezember 1885 über einen anderen unrühmlichen Schriftsteller, dessen Bücher ihm ein junger englischer Bewunderer zugeschickt hatte. «Und Ihnen wird ebenso wie mir der Gedanke gekommen sein, dass, je weiter unsere Zivilisation auf ihrem gegenwärtigen Wege fortschreitet, der ‹Ruhm› immer billiger wird, besonders der literarische.»
Melville selbst hatte seine Karriere als Romancier schon achtundzwanzig Jahre zuvor mit «Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen» beendet. Im Dezember 1885 quittierte er schliesslich auch die neunzehnjährige Dienstzeit als Zollinspektor im Hafen von New York. Dank einer grosszügigen finanziellen Zuwendung eines Onkels hatte er 1876 das umfangreiche, nach dem Selbstmord seines ältesten Sohns begonnene Versepos «Clarel» auf eigene Kosten veröffentlichen können; auch nach der Pensionierung schrieb er weiterhin Gedichte.
Als wenige Monate vor seinem Tod der letzte, von Melville privat in einer Auflage von fünfundzwanzig Exemplaren gedruckte Lyrikband erschien, hatte er die Arbeit an «Billy Budd» bereits beendet. Diese grossmeisterliche Novelle wurde Jahrzehnte nach Melvilles Tod in einer Brotdose gefunden und 1924 erstmals in England veröffentlicht. Sie hat nichts von der frivolen, karnevalesken Parade, die Melville in «Maskeraden» an Bord eines Mississippi-Dampfers aufmarschieren liess. Nichts von der traumwandlerischen Melancholie, mit der sich in «Clarel» ein amerikanischer Student auf die Pilgerreise durch die karge Ödnis des Heiligen Lands begibt. Als unbarmherzige, äusserst nüchtern erzählte Geschichte über den tragischen Sündenfall eines engelsgleichen Matrosen, den selbst die Güte seines Kapitäns nicht vor den zerstörerischen Kräften einer gottlosen, von Machtkämpfen erschütterten Zivilisation bewahren kann, war «Billy Budd» wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs ein ideales Vermächtnis für unsere Zeit.
Christoph Egger
Christoph Egger
Jürgen Brôcan